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WIE MÜSSEN MARKEN INNOVIEREN?


Wie müssen Marken innovieren?

Ein Plädoyer für die Sprunginnovation.

Es ist 2020. Der Beginn eines entscheidenden Jahrzehnts für die Welt und für Unternehmen. Klimawandel, nachhaltige Ernährung, Digitalisierung und Automatisierung – die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen sind enorm. Doch im Hinblick auf die Notwendigkeit neuer, schlauer Produktlösungen muss man sich fragen: Haben große Marken überhaupt noch das Zeug, große Innovationen zu erschaffen?

Der tägliche Blick ins Regal offenbart die aktuelle Innovationskraft deutscher Marken. Unter dem Label „NEU“ verbergen sich gerade einmal die nächste Joghurt-Geschmacksrichtung oder eine weitere alkoholfreie Biersorte und viel zu selten ein radikal-schlaues nachhaltiges Verpackungskonzept oder ein hochindividuelles Ernährungsprodukt. Ob Automobil-, Mode- oder Finanzsektor – quer durch alle Branchen sind es Start-ups wie wie einhornN26Lime oder foodspring, die mit mutigen Ideen Märkte auf den Kopf stellen und Kunden ein längst vergessenes „Wow!“ entlocken.

„Letzte große Innovation aus Deutschland? Das Auto!“

— Der Spiegel, 07.10.2019

Viele großen Marken wollen besser nichts riskieren, beobachten, replizieren Bewährtes und kaufen lieber ein bedrohlich schnell wachsendes Start-up, statt auf den eigenen Erfindungsreichtum zu setzen. Eine gefährliche Strategie, denn: Wer ein innovatives Start-up kauft, statt selbst zu innovieren, kauft keine Innovationskraft, sondern nur Zeit. Dabei ist der einzige zuverlässige Weg, den sich ständig wandelnden Märkten und Kundenbedürfnissen voraus zu sein, eine Sprunginnovation – sprich eine radikal neugedachte Lösung, die Kunden schlagartig ein Vielfaches an Nutzen bringt. Ob Staubsauger ohne Beutel, Airbag-Kragen fürs Fahrrad, eine App zum Rufen von Taxis oder das Elektroauto – Sprunginnovationen lösen echte Kundenprobleme auf eine neue, unerwartete Art und Weise.
Im Markt sorgt dieser Vorsprung dann meist langfristig für wirtschaftlichen Erfolg und das auch wenn der Markt bis dahin komplett saturiert erschien. Die Marke gewinnt an Aufmerksamkeit und wird differenzierend geprägt. Auch Mitarbeiter sind stolz und identifizieren sich plötzlich mehr mit dem Unternehmen. Doch das Wichtigste: Sprunginnovation haben die Kraft, ganze Unternehmen und sogar ganze Gesellschaften zu verändern. In einer Zeit, in der der Klimawandel schneller voranschreitet, als gedacht und jedes Unternehmen im Zugzwang steht, neue Produkte, Geschäftsmodelle und Kulturen zu entwickeln, die Soziales, Ökologie und Ökonomie gleichwertig berücksichtigen, scheinen Sprunginnovationen der einzige Ausweg zu sein.

Innovationsverdrossenheit bei den etablierten Marken

 

Vielen großen Marken fällt es schwer, über den eigenen Schatten zu springen und Raum für Ideen zu schaffen. Gründe sind auf den ersten Blick verkrustete Strukturen und engstirnige Gatekeeper. Doch wer genauer hinschaut, findet in diesen Unternehmen viele talentierte und engagierte Köpfe, die mehr wollen, als die fünf Klingen des bestehenden Rasierers um drei weitere zu ergänzen. Allerdings scheint ihnen niemand zuzuhören. Und das ist verständlich. Denn die Führung großer Marken wird immer komplexer. Das Tagesgeschäft ist stressig, die Zielgruppen segmentierter und die Zukunft unsicherer. Niemand hat mehr Zeit, sich Zeit zu nehmen. Jeder Markenverantwortliche würde sagen, dass die Beschäftigung mit der Zukunft essenziell ist. Doch im Unternehmensalltag fällt es meistens schwer, sich gedanklich auf das Morgen einzulassen, über den Tellerrand zu schauen und outside der eigenen Büro-Box zu denken.

Ein weiteres Problem:

Größere Unternehmen verfallen der Versuchung, den Innovationsprozess perfektionistisch-deutsch strukturieren, standardisieren und methodisieren zu wollen – um schnell und planbar zu Ergebnissen zu kommen. Ein gutes Beispiel dafür ist die aktuelle Besessenheit der deutschen Wirtschaft von Design Thinking. Viele Unternehmen haben mit dieser und anderen standardisierten Innovationsmethoden ihre Kreativität komplett abgeschnürt. Design Thinking hat deutschen Unternehmen zwar geholfen, den Innovationsprozesse zu strukturieren, aber nicht unbedingt zu besseren Ideen geführt. Ein stark theoretisierter Innovationsprozess führt eben nur theoretisch zu echten Sprunginnovationen.

Zudem orientieren sich größere Unternehmen zu oft bei der Suche und Überprüfung ihrer Ideen wie gewohnt am Mainstream – also der größtmöglichen Zielgruppe. Verständlich, denn diese sind meist gut erforscht, leicht zugänglich und versprechen augenscheinlich sofortigen Umsatz. Was sie nicht bedenken: Wer dem Mainstream folgt, hängt per Definition hinterher. Denn der Mainstream ist meist mit dem Status Quo ganz zufrieden und steht radikalen Veränderungen skeptisch gegenüber. So werden viele Sprunginnovationen im Keim erstickt und bekommen nicht die Chance sich als Risikoinvestition zur zukünftigen „Cash Cow“ zu entwickeln.

“You can't just ask customers what they want and then try to give that to them. By the time you get it built, they'll want something new.”

— Steve Jobs

Und schafft es doch einmal eine große Idee gehört zu werden, ist sie immer noch weit entfernt davon, das Licht der Welt zu erblicken. Denn die größte Hürde von Sprunginnovationen sind oft weder Konsument noch Markt, sondern die Angst der Markenverantwortlichen vor Veränderungen. Eine Sprunginnovation verlangt per se, dass Dinge anders gemacht werden. Ob im Einkauf, in der Produktion oder in der Vermarktung, überall müssen Verantwortliche neue Wege finden und Dinge auf eine andere Art als gewohnt tun. Besonders gefährlich dabei: Budgets werden neu verteilt. Oder noch schlimmer: Man schafft die eigene Stelle ab. Die Folge: Veränderung wird verhindert.

Per Sprung zur großen Idee

 

Müssen wir also die großen Marken als die Dinos unserer Zeit abschreiben? Müssen wir die Hoffnung auf mutige Innovationen für immer in die Hände agiler Start-ups aus den USA oder China legen? Nicht unbedingt! Mit wenigen entschlossenen Schritten lassen sich in kurzer Zeit radikal innovative Konzepte entwickeln, die bereits in 2020 die Weichen für die Transformation von Unternehmen und ganzen Gesellschaften stellen können. Die wichtigsten Schritte dafür sind:

1. Freiräume schaffen – physisch und gedanklich

 

Zuallererst geht es darum, sich Zeit und Raum für die Arbeit an Sprunginnovation zu nehmen und das, obwohl die Probleme des Tagesgeschäfts wichtiger erscheinen. Übrigens ein Trugschluss, denn sie sind dringender, aber nicht wichtiger.

Aber wieviel Zeit braucht man für gute Ideen? Qualität geht hier vor Quantität. Ausreichend sind schon wenige fokussierte Tage im Jahr. Ein Muss ist allerdings ein inspirierender, vom Alltag abgeschirmter Ort, an dem ein komplettes Eintauchen (Immersion) in die Kundenwirklichkeit von morgen möglich ist. Doch wirklich entscheidend ist der gedankliche Freiraum. Ein konzentriertes Arbeiten, ohne sich im ersten Schritt über die Umsetzung Gedanken zu machen. Dafür aber mit der Erlaubnis, jede bisherige Annahme hinterfragen zu dürfen.

2. Kontrolliertes Chaos zulassen

 

Innovationsteams in größeren Unternehmen sind oft zu homogen besetzt und arbeiten mit standardisierten Methoden, die wenig Raum für kreative Reibung lassen. So entstehen zwar schnell Ideen, doch keine echten Sprunginnovationen. Dabei ist kreatives Chaos ein wichtiger Katalysator für unerwartete Ideen. Denn nur wenn Menschen, Gedanken und Lösungen wie in einem Teilchenbeschleuniger zufällig aufeinander knallen, entstehen neue, ungedachte Verbindungen.

Für Innovationsverantwortliche heißt es also: das kreative Chaos zulassen sogar forcieren und kreative Köpfe in den Prozess bringen, die unangenehme Fragen stellen und unangenehme Antworten parat haben. Aber auch immer wieder mit neuen Methoden den Prozess zu innovieren. Reibung, Druck und Rückschritte auszuhalten, um am Ende die entstandene Spannung und Energie in einem Geistesblitz auflösen zu sehen.

3. An Leadzielgruppen orientieren

 

Mikromobilität, Alltags-Outsourcing und Self-Tracking sind nur einige Trends, die mit hoher Sicherheit die Bedürfnisse der Kunden in naher Zukunft formen werden. Doch noch sind sie im Mainstream nicht angekommen. Dementsprechend wenig sinnvoll, ist es, den Mainstream als Feedback und Quelle für Sprunginnovationen heranzuziehen. Stattdessen sollte man es zum Ziel machen, Leadzielgruppen zu identifizieren, zu begleiten und zu verstehen. Leadzielgruppen sind Menschen, die dem Markt vorauseilen und heute die Gedanken denken, die Wertvorstellungen haben und den Lebensstil leben, die erst in ein paar Jahren die Masse erreichen werden.

„Die Zukunft ist bereits hier – sie ist nur ungleichmässig verteilt.“

— William Gibson, Zukunftsforscher

4. Mit Geschichten statt mit Argumenten begeistern

 

Die schlechte Nachricht: Ein großer innovativer Gedanke ist immer Neuland und trifft dadurch ganz natürlich auf Widerstände und Ablehnung – in der Gesellschaft, aber auch im eigenen Unternehmen. Die gute Nachricht: Ein innovativer Gedanke hat auch immer eine unglaubliche Anziehungs- und Umwälzungskraft. Sie zu kanalisieren und zu nutzen, ist eine wesentliche Aufgabe moderner Marken- und Innovationsverantwortlicher. Damit das gelingt, braucht jede große Idee eine große Geschichte. Der beste Weg, diese zu erzählen, ist es, die Idee, das Konzept oder die Vision bereits bei der Innovationsentwicklung emotional und relevant zu formulieren. Die Story ist dann untrennbar damit verbunden und wird zum ständigen Begleiter und Beschützer der Sprunginnovation.

“If you want something new, you have to stop doing something old.”

— Peter Drucker

Ein Resümee: 2020 ist die beste Zeit zu springen

Nur wer heute über seinen Schatten springt, wird auch im kommenden Jahrzehnt Ideen erschaffen, die unsere Gesellschaft verändern und das eigene wirtschaftliche Überleben sichern. Wer bereit ist, anders zu denken und Chaos, Komplexität und Träume zuzulassen, wird die Innovationen entwickeln, von denen man seinen Enkeln nicht nur stolz erzählt, sondern die ihnen auch eine lebenswerte Zukunft ermöglichen.

Alexander Kovrigin

Diesen Artikel verfasste der Marken- und Innovationsstratege Alexander Kovrigin von Grabarz JMP. Er leitet das Innovationsbüro der Kreativagentur Grabarz & Partner und ist Speaker und Gastprofessor an der Freien Universität Berlin. Mehr jumpige Gedanken auf: Alexanders LinkedIn Profil und auf Grabarz JMP.

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